Sie kamen mit dem Lastwagen aus Berg-Karabach. Es war der Lastwagen eines Nachbarn. Sie luden, was immer sie schnell greifen konnten. Etwa zwanzig Leute stiegen auf den Lastwagen und verließen Berg-Karabach. Aber als sie in Armenien ankamen, wussten sie nicht, wohin sie gehen sollten, was sie tun sollten …
In der Nähe des Lastwagens waren noch andere Leute. Unter anderem die Familie Grigoryan. Edita Grigoryan ist sehr zurückhaltend, spricht mit kaum hörbarer Stimme, trägt nur schwarze Kleidung. Der Weg, den Edita und ihre Familie gegangen sind, ist unglaublich: Sie lebten im Dorf Sarushen in der Region Askeran in Berg-Karabach.
Am 19. September 2023 um 13:00 Uhr begann ein groß angelegter Bombenangriff. Die Kinder waren in der Schule, alle waren bei der Arbeit, auf dem Feld, im Garten. In der Schule gab es Anweisungen, nach Hause zu gehen. Edita hatte keine Zeit, sich von ihren Freunden und Lehrern zu verabschieden. Mit ihren Geschwistern rannte sie nach Hause. Der Bürgermeister hatte allen mitgeteilt, dass die aserbaidschanische Armee in das Dorf eingedrungen sei und sie in den Wald fliehen sollten. Edita schaffte es nicht einmal, sich umzuziehen oder warme Kleidung oder Socken einzupacken. Sie erinnert sich nur daran, dass ihr angewiesen wurde, die Hand ihrer Großmutter nicht loszulassen.
Nur etwas Erde
Sie marschierten mehrere Tage lang, konnten sich nicht ausruhen, die Angst, getötet zu werden, war zu groß. Edita erinnert sich, wie sie die Hand ihrer Großmutter so fest hielt, dass sie sie bis heute geistig nicht loslassen kann. Noch heute kommt es ihr so vor, als könne jederzeit jemand kommen und ihr oder einem Familienmitglied Schaden zufügen. Edita nahm nur eines mit – sie hob Erde vom Boden, füllte ihre Taschen und brachte sie mit nach Armenien. Zusammen mit hunderten von Familien trat auch Editas Familie die Flucht zu Fuß durch die Wälder an. Editas Geschichte ist die Geschichte der Vertreibung einer Familie.
Edita erinnert sich, wie sie die Hand ihrer Großmutter so fest hielt, dass sie sie bis heute geistig nicht loslassen kann.
Editas Traum
Flucht und Vertreibung und die täglichen Nöte haben die Familie Grigoryan zusammenwachsen lassen. Das tägliche Überleben ist für die Familie ein Problem. Das Haus muss geheizt werden, Holz wird benötigt, die Kinder brauchen warme Kleidung. Die Nachbarn sind freundlich und hilfsbereit. Sie erhalten auch etwas Hilfe vom Staat. Der Vater arbeitet als Tagelöhner und kann an guten Tagen etwa 25 Euro verdienen. Damit kaufen sie Lebensmittel, sonst nichts. Edita hat Träume. Sie möchte gerne in ihr Dorf, ihre Schule, ihr Zimmer, ihren Garten zurückkehren. Sie möchte einmal als Friseurin arbeiten, nützlich für die Leute sein. Unter den geflüchteten Menschen, die in der Nähe des Lastwagens ausharrten, war auch Familie Margaryan. Lyudmila Margaryan einnert sich …
„Wir lebten in der Hauptstadt Stepanakert. Mein Mann arbeitete bei der Polizei, wir hatten eine schöne Wohnung. Meine Kinder gingen zur Schule und in den Kindergarten. Ich hatte meinen Job. Wir waren glücklich, sicher und gesund. Der 19. September 2023 hat den gesamten Verlauf unseres Lebens verändert. Als die ersten Explosionen zu hören waren, war ich an meinem Arbeitsplatz, mein Mann war auch bei der Arbeit, meine Kinder waren in der Schule, meine kleine Tochter war im Kindergarten. Ich rannte zuerst zum Kindergarten, um mein Kind nach Hause zu bringen. Der Kindergarten war bereits leer. Ich rannte mehrere Stunden lang von Ort zu Ort und suchte nach meinem Kind. Es war nicht möglich, die Kindergärtnerin anzurufen. In der Stadt herrschte Chaos, Bomben, Lärm. Stunden später erhielt ich die Nachricht, dass die Gruppe in einer Notunterkunft sei.“
Ein schwerer Neuanfang
Die Familie Margaryan konnte fliehen. Jetzt lebt sie jetzt im Dorf Alapars in der Region Kotayk. Lyudmila und ihre Tochter haben nichts, das ihnen gehört, nur ein paar Kleider. Sie haben kein Einkommen. Denn Lyudmilas Mann kann nicht arbeiten, er muss sich um seine Frau kümmern. Ljudmila leidet an einem bösartigen Brustkrebs. Am 30. August wurde sie operiert. Bestrahlung. Medikamente. Mehrere tausend Euro pro Kur. Die Familie ist bereits hoch verschuldet. „Ich möchte nicht sterben, meine Kinder nicht allein lassen. Ich will Frieden. Weihnachten kommt“, sagt Lyudmila.
Familie Hakobjanyan
Die Familie lebt in der zweitgrößten Stadt Armeniens, in Gymri. Der Vater, Ararat Hakobjanyan, erzählt von den schweren Tagen der Flucht und den Schwierigkeiten, mit denen sie jetzt konfrontiert sind …
„Wir haben Gottes Versorgung erlebt. Wir merkten, dass die Lage sich immer mehr zuspitzte. Wir schliefen nachts bekleidet, sogar mit den Schuhen an, damit wir schnell fliehen könnten. Als der Angriff am 19. September begann, hat Gott mich bewahrt. Mehrmals fielen Granaten dorthin, wo ich gerade noch gestanden hatte. Die Kinder waren bis auf die Jüngste in der Schule. Die Schule wurde bombardiert. Legst du dich auf die Erde unter dem Beschuss oder rennst du weiter? Was ist richtig? Wie überleben wir? Unter dem Granatenhagel flüchteten wir mit unseren Töchtern. Wir erreichten unser Haus und warteten im Keller ab.
Nur ein Stein
Als der Waffenstillstand verkündet wurde, verschlossen wir das letzte Mal die Tür unseres Hauses und stiegen in den Wagen. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss, aber der Motor sprang nicht an. Verzweifelt schrie ich zu Gott. Der Motor sprang an. Später hörten wir von Gräueltaten in Dörfern, wo die Bewohner nicht rechtzeitig fliehen konnten. Was uns gebrochen hat, waren die Augen der Kinder. Die Augen der Kinder waren ausgelaugt. Wenn du diese Augen gesehen hast, dann brichst du. Du ergibst dich. Vor uns war ein alter LKW mit offener Ladefläche. Dort saßen zusammengekauert über 20 Menschen unter offenem Himmel, in der Kälte, ohne Essen und Trinken. Im Auto neben uns hielten Eltern ihr totes Kind in den Armen, um es in Armenien zu begraben. Innerlich schrie ich über diese Ungerechtigkeit.“
Die 15-jährige Nare erinnert sich an den Tag der Flucht: „Wir hatten wenig Zeit. Was nehme ich mit? Ich ging hinaus und nahm einen Stein. Das ist mein Andenken an meine Heimat. Mein Vater segnete das Haus noch, bevor wir es verließen. Wer auch immer hier leben wird, soll im Segen Gottes leben. Wir hingen die Schlüssel an einem Band an den Türgriff und verließen unsere Heimat.“
Ararat erzählt: „Heute danken wir Gott trotz all der Schwierigkeiten. Es gibt kaum Unterstützung vom Staat. Es ist fast nicht möglich, Arbeit zu finden; wir wissen nicht, wie wir überleben sollen. Es ist sowieso schwierig für die Armenier im Land, jetzt sind wir auch noch dazu gekommen. Wir beten um Führung, Gott wird uns zeigen, was wir tun sollen. Wir konnten jetzt eine Wohnung mieten, doch im Dezember wird die letzte staatliche Hilfe wegfallen. Wie es dann weitergehen wird, liegt in Gottes Hand. Früher hatten wir andere Prioritäten. Doch alles hat sich verändert. Wir haben Gottes Wort nicht nur gelesen, sondern erlebt. Rettung ist nur in Gott.“
Bitte beten Sie
-
für die vertriebenen Christen, dass sie in Armenien Gottes Frieden und Trost erleben. Wenn Sie Christen in dieser Region unterstützen möchten, erhalten Sie unten mehr Informationen.für die vertriebenen Christen, dass sie in Armenien Gottes Frieden und Trost erleben. Wenn Sie Christen in dieser Region unterstützen möchten, erhalten Sie unten mehr Informationen.
BERG-KARABACH
Die „Region Berg-Karabach“ ist Teil des größeren Gebietes „Karabach“. Trotz wechselnder politischer Geschicke war dieser Teil des Kleinen Kaukasus seit vielen Jahrhunderten und bis zuletzt mehrheitlich vom christlichen Volk der Armenier besiedelt. Durch Beschluss der Kommunistischen Partei Russlands wurde Bergkarabach 1921 autonome Region im Staatsgebiet der aserbaidschanischen Teilrepublik. Der muslimische Charakter von Aserbaidschan spielte während der Sowjetzeit keine entscheidende Rolle.
Schon vor dem Zerfall der Sowjetunion kam es jedoch zu wiederholten schweren Zusammenstößen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern. Völkerrechtlich blieb Berg-Karabach nach dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 Teil des nun unabhängigen Aserbaidschan. Die Armenier in der Region erklärten aber ihre Unabhängigkeit, was zu Kämpfen unter Beteiligung der armenischen Armee führte. Nach dem Waffenstillstand 1994 umfasste die „Republik Berg-Karabach“ den größten Teil des umstrittenen Gebiets. Bei erneuten Kämpfen 2020 und 2023 eroberte die Armee Aserbaidschans die umstrittene Region vollständig. Zeitweise verhinderte Aserbaidschan die Zufuhr von Lebensmitteln und Medikamenten. Hungersnot und gezielte Vertreibungen führten schließlich zur verzweifelten und überstürzten Flucht aller Armenier aus Berg-Karabach nach Armenien. Diese ethnische Säuberung machte auch vor der Zerstörung von Kirchen und anderen Hinweisen auf die alte christliche armenische Kultur nicht Halt.