Am 13. Februar 2017 fuhr Pastor Raymond Koh wie an jedem Morgen zur Arbeit. Es war ein Montag, kurz nach neun Uhr, in einem Vorort von Kuala Lumpur, Malaysia. Plötzlich umzingelten mehrere Fahrzeuge sein Auto und drängten ihn von der Straße. Mehr als ein Dutzend maskierte Männer stürmten auf Raymonds Wagen zu, schlugen die Scheiben ein. In weniger als einer Minute zogen sie den Pastor heraus, stießen ihn in eines ihrer Fahrzeuge – und verschwanden spurlos. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihm.
Raymonds Tochter Esther erfuhr durch einen Beitrag in den sozialen Medien von dem Überfall auf ihren Vater. Ein Freund zeigte ihr das Video. Als sie die Bilder sah, brach sie zusammen. Sie dachte sofort an die Morddrohung, die ihr Vater wenige Wochen zuvor erhalten hatte: zwei Patronen, verpackt in einer Zigarettenschachtel. Die Botschaft war eindeutig.
Die Drohung erfolgte nach einer Razzia in Raymonds Büro. Die Behörden warfen ihm vor, malaiische Muslime zum Christentum bekehren zu wollen. In Malaysia gilt: Wer zur Volksgruppe der Malaien gehört, ist automatisch Muslim, darf nicht missioniert werden. Von den rund 33 Millionen Einwohnern sind etwa zwei Drittel (63,5 %) Muslime und knapp 10 % Christen.
Ein Überfall wie aus einem Film
In den Tagen nach der Entführung berichteten Zeugen von einem perfekt organisierten Einsatz: ein Konvoi, professionell, militärisch wie aus einem Film. „So etwas hat es in diesem Land noch nie gegeben. Niemand wurde je auf diese Weise entführt“, sagt Esther.
Erinnerungen an eine behütete Kindheit
Raymond Koh stammte aus armen Verhältnisse. Deshalb gründete er eine Organisation für Bedürftige, insbesondere für alleinstehende Mütter, Menschen mit HIV/AIDS und Drogenabhängige.
Wenn Esther an ihren Vater denkt, kommen ihr die schönen Momente mit ihm in den Sinn: samstags schwimmen und danach Hamburger essen, sonntags Bibellesen und Lob Gottes. „Mein Vater war mein großes Glaubensvorbild. Er hat mir gezeigt, wie man die Bibel liest und liebt“, sagt Esther. Trotz seiner vielen Aufgaben nahm Raymond sich immer Zeit für seine Kinder. Er hörte ihnen zu, wenn sie ihn brauchten. „Einmal hatte ich Streit mit Freunden. Ich erzählte meinem Vater alles. Er hörte zu und sagte am Ende nur drei Worte: ‚Gott weiß es.‘ Bis heute hilft mir dieser Satz. Gott weiß auch, was mit ihm geschehen ist“, sagt Esther.
Er hörte zu und sagte am Ende nur drei Worte: „Gott weiß es“.
Schock, Angst und ein Traum
In den Wochen nach der Entführung schwankte die Familie von Raymond Koh zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie klopften an Türen, sprachen mit Zeugen, suchten nach Antworten. Zwei Menschen meldeten sich, doch wirkliche Hinweise gab es nicht. In dieser Zeit hatte Esther einen Traum: „Ich sah meinen Vater in einem Meer, das wie Gold glänzte. Er schwamm im Meer und sah so glücklich aus. Als ich aufwachte, hatte ich einen unbeschreiblichen Frieden. Ich wusste: Er ist in Gottes Händen“, erinnert sich Esther.
Spur zum Geheimdienst
2019 begann die malaysische Menschenrechtskommission mit einer Untersuchung. Sie stellte fest, dass der Geheimdienst „Malaysische Sonderabteilung“ in die Entführung von Raymond verwickelt war. Wegen seiner religiösen Aktivitäten war er ins Visier der Behörden geraten. Doch bis heute fehlt jede offizielle Aufklärung.
Der Gott allen Trostes
Als Esther davon erfuhr, stürzte sie erneut in ein tiefes Loch. Depressionen und Angstzustände machten ihr zu schaffen. Ihr schien, als gäbe es keine Hoffnung mehr für ihren Vater. Doch der Gott allen Trostes ermutigte die Familie durch die weltweiten Gebete, Mahnwachen und Zeichen der Solidarität für Raymond. „Gerade in dieser Dunkelheit habe ich erlebt, dass Gott uns beisteht, auch wenn die Wahrheit verborgen bleibt“, sagt Esther. Weil sich Esthers Zustand nicht besserte, nahm sie an einer christlichen Freizeit teil. Dort lernte sie, auf Gott zu vertrauen. „Als das mit meinem Vater passierte, geriet mein Glauben ins Schwanken. Es war, als würde man mich ins tiefe Wasser werfen – ohne Schwimmweste. Schritt für Schritt lernte ich, Gott neu zu vertrauen. Dieser Weg war sehr schwer, aber er führte mich in eine tiefere Beziehung mit Jesus“, sagt Esther. „Auf diesem Weg habe ich erfahren, wie Gott mir in Jesus Trost geschenkt hat.“
Zeugnis der Hoffnung
Lange sprach Esther in der Öffentlichkeit nicht über die Entführung ihres Vaters – zu groß war ihr Schmerz. Erst im Mai 2024 wagte sie es, in einer großen Kirche darüber zu reden. „Ich möchte, dass die Menschen wissen, wer mein Vater war und was Gott mich durch ihn gelehrt hat. Und ich möchte, dass die Menschen durch die Geschichte meines Vaters ermutigt werden, an den Gott zu glauben, der seine Kinder durch die schwierigen Zeiten trägt und sie tröstet“, sagt Esther. Bei dem Vortrag zitierte Esther den Lieblingsvers ihres Vaters – Jeremia 33,3: „Rufe mich an, so will ich dir antworten und will dir kundtun große und unfassbare Dinge, von denen du nicht weißt“. Heute studiert Esther Psychologie, um Menschen zu helfen, die unter Depressionen und Angst leiden.
Noch immer weiß Raymonds Familie nicht, was mit ihm geschah. Doch Esther erinnert sich an 1. Petrus 1, 6-7: „Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, damit euer Glaube als echt und viel kostbarer befunden werde als das vergängliche Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus.“ Sie sagt: „Leiden erinnert uns daran, dass wir nicht von dieser Welt sind. Es zeigt uns: Wir haben ewiges Leben in Jesus Christus“.
Bitte beten Sie
für Raymonds Frau und Töchter, dass Gott ihnen Kraft und Ausdauer und Licht ins Dunkel bringt.